Basel verletzt Menschenrechte - Nein zur Einführung des strengen Bettelverbots
Rede gehalten am 23.06.2021 im Grossen Rat, zum Ratschlag Revision Übertretungsstrafgesetz
Nach dem Entscheid vom EGMR im Januar brauchte der Regierungsrat Zeit, um herauszufinden, wie sie die Motion Thüring umsetzt. Die öffentliche Debatte nahm diesen Entscheid vom EGMR wenig zur Kenntnis und sah weiterhin das Totalverbot als alleinige Lösung. In diese Bresche sind Pascal Pfister und ich im April mit unserem Blogbeitrag gesprungen, und wir machten unsererseits sehr konkrete Vorschläge: man könnte aggressives Betteln verbieten, Verbote an verschiedenen Orten wären denkbar, und wir forderten einen integrierten Aktionsplan im Dreieck von Bettelordnung, Sozialpolitik und Antidiskriminierung. Wir haben vorher Gespräche geführt mit Wissenschaftler*innen, Vertretenden von Roma-Organisationen, Gassenarbeiter*innen und Kirchen, europaweit. Wir haben für unsere differenzierten Lösungsvorschläge viel Kritik einstecken müssen, es ist nicht sonderlich populär, für die Rechte der Bettelnden einzustehen.
Der Ratschlag der Regierung ist tatsächlich zum gleichen Schluss gekommen wie wir, nämlich dass ein Verbot von aggressivem Betteln und räumliche Verbote ein gangbarer Weg sind. Die Regierung hat diesen Weg aber so sehr ausgereizt, dass sie deutlich über das Ziel hinausgeschossen ist. Die beiligende Darstellung vom Marktplatz illustriert das.
Die Kreise entsprechen der 5-Meter-Regelung vor Eingängen von Läden, Banken und weiteren Orten, zudem ist auf Märkten und Haltestellen betteln verboten. Es wird deutlich, dass man neu noch knapp auf den Tramgleisen betteln darf. Wir haben hier am Martkplatz beinahe wieder ein Totalverbot, und das ist aus unserer Sicht nicht konform mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Betteln darf verboten werden, wenn dadurch die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht wird. Hier auf dem Marktplatz ist jetzt an ganz vielen Orten Betteln verboten, wo eine solche Störung nicht vorliegt; also an Orten, wo Menschen nicht am Zirkulieren behindert werden, wo Menschen nicht gerade vom Bankomat kommen mit Geld in der Hand. Das Ziel der Vorlage ist vielmehr, dass die Bevölkerung nicht mehr mit Armut konfrontiert wird am Marktplatz. Es ist unverhältnismässig, so stark in das Grundrecht des Bettelns einzugreifen.
Pascal Pfister und ich haben unseren Blogbeitrag viele Rückmeldungen erhalten. Die Totalliberalisierung des Bettelns hat zu ernsten Konflikten rund um den öffentlichen Raum geführt, viele ältere Menschen fühlten sich zeitweise nicht mehr wohl im öffentlichen Raum, viele fühlten sich zu tiefst verunsichert durch die aggressiven Formen von Betteln. Nicht alle Bettelnden sind angenehme Zeitgenoss*innen – wie auch im Grossen Rat, wohlgemerkt, nicht alles angenehme Zeitgenoss*innen sind. Es gibt den Handlungsbedarf, in das Grundrecht Betteln etwas einzugreifen, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof verlangt aber einen Interessensausgleich zwischen den Rechte der ansässigen Bevölkerung und den Rechte der Bettelnden.
Aber wer wählt die Mitglieder des Grossen Rates? Selbstverständlich die Bevölkerung von hier. Der Druck auf alle Parteien hier drin ist sehr gross, lediglich auf den Ärger in der Bevölkerung zu hören. Zwangsweise sind die Interessen der Bettelnden hier im Parlament untervertreten. Wir sind aber als Parlament verpflichtet, die Rechte der Bevölkerung und die Rechte der Bettelnden im Blick zu haben. Die jetzige Vorlage macht das nicht zu genüge, und droht, vor dem EGMR nicht standzuhalten.
Unser Gegenvorschlag (siehe unten) ist als eine vollständige Ergänzung des jetzigen Paragraphen 9 zu verstehen. Die wichtigste Änderung am Ratschlag ist, dass wir eine Bettelordnung möchten, also eine Verordnung, und das Gesetz dafür offener formulieren, z.B. ohne die 5-m-Angabe.
Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, dass ich als linke Politikerin, die sonst möglichst viel Kompetenzen beim Parlament haben möchte, hier dafür bin, dass der Regierungsrat, der ja Verordnungen erlässt, viel Kompetenz erhalten soll. Ich bin der Meinung, dass der vom EGMR verlangte Interessensausgleich durch die Exekutive in einer detaillierten Verordneung besser gemacht werden kann als durch den Gesetzgeber im Übertretungsstrafgesetz.
Eine Bettelordnung soll unter anderem eine gewisse Flexibilität bringen. Ich habe Gespräche z.B. mit der Diakonie in Hamburg geführt, und habe erfahren, dass dort die Bettelthematik wellenartig immer wieder von neuem die Stadt beschäftigt, immer wieder medial skandalisiert und von gewissen politischen Parteien genüsslich ausgeschlachtet wird. Es stellt sich mir die Frage, ob wir dies in Basel auch wollen. Solche öffentlichen Debatten auf dem Rücken der besonders Vulnerablen sind nicht nur anstrengend für die Parteien, die von der Hetze auf Minderheiten nicht profitieren, sondern diese öffentlichen Debatten verschärfen Vorurteile und verstärken Stigmatisierung von Armutsbetroffenen. Wenn wir der Regierung die Kompetenz geben für eine Bettelordnung, kann sie neue Detailfragen selber in der Anpassung einer Verordnung klären. Ein runder Tisch bestehend aus verschiedenen Institutionen und Fachpersonen könnte jeweils neu aufkommende Themen aufgreifen, Lösungen mit Blick auf den Interessenausgleich suchen, und das könnte in die Anpassungen der Verordnung einfliessen. Der Weg über de Verordnung könnte aus meiner Sicht eine Versachlichung und Entpolitisierung der Thematik bewirken.
Wir müssen der Realität ins Auge schauen, dass wir alle, Bevölkerung und Politik, eigentlich überfordert sind von dieser Thematik. Es geht hier nicht um diese blauen Kreise in der Darstellung oben, sondern es geht um Verletzlichkeit und extreme Armut der Bettelnden. Der soziale Ausschluss dieser Minderheiten ist so stark, dass sie kaum Zugang zum formellen Arbeitsmarkt in den Herkunftsländern finden, und auch von dortigen sozialpolitischen Massnahmen ihre sozialen Rechte nicht gesichert sind. Sie entscheiden sich für eine extrem prekäre Form von Arbeitsmigration, und lassen dafür die Familie zurück. Insbesondere Frauen und Kinder sind dabei besonders vulnerabel, und viele Roma Minderheiten werden dabei Opfer von Menschenhandel. Andere schaffen es, selbständig zu reisen, durch starke soziale Netze mit Verwandten und Freunden aus demselben Dorf unterstützt, die auch hier zusammen betteln um ihr Überleben zu sichern. Diese extreme Armut geht zurück auf jahrhundertelange Diskrimierung von Roma-Minderheiten, und bisher hat weder Rumänien noch Europa es geschafft, wirkliche Lösungen zu finden. Ja, wir können Hilfe zur Selbsthilfe in Herkunftsländern leisten, wir müssen aber hier karitativ wirken, die sozialen Rechte und Menschenwürde hier sicherstellen, solange sie hier sind.
Die bürgerliche Mehrheit im Grossen Rat wird mit einem so weitgehenden Verbot die Präsenz dieser Menschen in Basel wieder stark reduzieren. Damit verschwinden sie aber lediglich aus unserer Sicht, ihre Notlage existiert weiterhin, einfach anderswo. Ihre Menschenrechte werden verletzt, und mit der Annahme des neuen Gesetzes durch den Grossen Rat neu auch hier in Basel.
Gegenvorschlag der Fraktionen SP und GAB
§ 9
1 Mit Busse wird bestraft, wer:
a) bandenmässiges Betteln, insbesondere durch die Ausbeutung Dritter, organisiert;
b) andere Personen zum Betteln schickt;
c) beim Betteln täuschende oder unlautere Methoden anwendet;
d) im öffentlichen Raum oder an allgemein zugänglichen Orten störend bettelt und dabei die Regeln der Basler Bettelordnung wiederholt nicht einhält.
2 Der Regierungsrat erlässt und publiziert ausgehend von einer sorgfältigen Abwägung aller Interessen und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit eine Verordnung zum Betteln (Basler Bettelordnung).
3 Untersagt werden darf in der Verordnung:
a) Betteln in aufdringlicher oder aggressiver Art und Weise;
b.) Betteln, das die Nutzung des öffentlichen Raumes durch andere Personen erheblich einschränkt;
c.) Betteln im unmittelbaren Bereich von
Ein- und Ausgängen von Bahnhöfen;
Haltestellen des öffentlichen Verkehrs;
Geld-, Zahlungs- und Fahrkartenautomaten;
Ladengeschäften, Banken und Poststellen;
Hotels, Restaurants und deren Boulevardbereichen;
Märkten, Verkaufsständen oder Buvetten;
Friedhöfen, Spielplätzen, Schulanlagen, Unterführungen.
4 Die durch strafbares Betteln nach Abs. 1 lit. a. - c. erlangten Vermögenswerte können sichergestellt und eingezogen werden.